_________________________________ Series of the Collections for Research into
Sudeten German Minority III. Szentendre/Hungary, 2006. HU
ISSN 1788-0971 _________________________________ |
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Dr. Jochen Koch: Die Regentschaft der Sprache und die
Sprache der Regenten (Die Geschichte der deutschsprachigen
Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn vom II. Weltkrieg bis
in die 50-er Jahre) Vorlesung auf der Konferenz "Deutsche in der
Minderheit" in Szentendre, 9-11. März, 1999 http://www.fullextra.hu/modules.php?name=News&file=print&sid=909 ) In der alten Geschichte vom Turmbau zu Babel heißt es zu
Beginn: "Die Menschen hatten ein und dieselbe Sprache und ein und
dieselben Wörter." Der Fortgang der Geschichte ist allseits bekannt. Um
ihre Existenz zu sichern, zogen die Menschen aus und machten "groß'
Staat". Vor ihren Augen schwebte eine Stadt samt einem Turm, der mit
seiner Spitze bis an den Himmel reicht. Als Gott auf dieses selbstherrliche
Tun der Menschen aufmerksam wurde, sprach er: "Siehe, ein Volk sind sie
und eine Sprache haben sie alle ... Jetzt wird ihnen nichts mehr unmöglich
sein, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, lasst uns herabfahren und dort ihre
Sprache verwirren, dass sie einer der anderen Sprache nicht mehr
verstehen." So kommt es unversehens zum abrupten Ende des gesamten Unternehmens:
die Menschen stehen vor dem Trümmerhaufen ihres politischen Größenwahns und
verstehen einander sprichwörtlich nicht mehr. Kaum eine andere Geschichte spricht in so knappen und markanten
Zügen von der politischen und kulturellen Bedeutung der Sprache. Staaten und
Kulturen sind ohne eine gemeinsame Sprache nicht denkbar. Der Philosoph
Konfuzius hat einmal gesagt, "wenn er mit der Führung eines Staates
betraut wäre, |
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würde er allen Wörtern ihren ursprünglichen Sinn geben".
(1) Die Anweisungen des Regenten sollen für jeden verstehbar und einsichtig
sein. "Ein Staat - eine Sprache", dachte sich ebenfalls der
Habsburger Regent Josef II., der Deutsch als allgemeine Amtssprache in seinem
Vielvölkerstaat einführte. Mit seiner - nur scheinbar an die konfuzianische
Weisheit anklingende - Maßnahme schürte er jedoch bloß umso mehr Widerstand
unter den Ungarn, der schließlich in das lodernde Feuer des Freiheitskampfes von
1848 umschlug. Der Ausgleich von 1867, der Ungarn wieder weitgehend Herr im
eigenen Haus sein ließ, präsentierte den Habsburgern die Rechnung für ihre
früheren Vergehen. Kaum geschehen schlug nun in Ungarn das Pendel in die
andere Richtung aus - wieder unter dem Motto "ein Staat - eine
Sprache". Lediglich die Chiffre hatte sich geändert. Die
Magyarisierungspolitik, die bis weit in unser Jahrhundert hinein bestimmend
war, machte den Minderheiten nicht weniger zu schaffen als den Ungarn die
Germanisierungspläne Josefs II. Als im August 1940 das Wiener Abkommen die
Lage der deutschen Volksgruppe in Ungarn neu regelte, hätte man meinen
können, dass damit die Untiefen der Vergangenheit umschifft gewesen wären.
Doch die inhaltlichen Bestimmungen des Vertrags und der Geist der Zeit
leiteten den Streit um Sprache und Kultur erneut in ein falsches Fahrwasser.
Die Kirche blieb von dem allen nicht unberührt, ebenso wenig von den Stürmen,
die nach dem Krieg über die ungarndeutschen Gemeinden hinwegfegten und deren
kulturellem Leben bald ganz das Ende zu bereiten drohten. Die Frage, wie sich
die ungarische Evangelisch-Lutherische Kirche (im weiteren ELKU) angesichts
dieser Streitigkeiten verhielt, soll uns im Weiteren beschäftigen. I.
Deutschsprachige Gemeinden während des II. Weltkriegs In Ungarn beheimaten fünf größere Regionen deutschsprachige
evangelische Gemeinden: das Gebiet Tolna-Baranya-Somogy südlich des
Plattensees, Budapest und Umgebung, Westungarn, der Gürtel von Rajka nach
Pusztavám südlich der slowakischen Grenze sowie einzelne Ortschaften im
Gebiet Arad-Békés im Südosten Ungarns. |
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Diese Gemeinden waren schon immer Teil der ELKU, konnten aber
gleichwohl eine kirchliche Kultur mit durchaus originären Zügen entwickeln.
Hierzu wären die Liturgie der Gottesdienste, der Gebrauch der aus Deutschland
mitgebrachten Marburger Gesangbücher oder die so genannten Bußtage, die
speziell für die evangelischen deutschsprachigen Gemeinden im Dekanat
Tolna-Baranya typisch waren, zu nennen. Die Entscheidung über den Sprachgebrauch in Gottesdienst und
Unterricht hing von den örtlichen Gegebenheiten ab. In rein ungarndeutschen
Ortschaften wurde nur deutsch gesprochen. War das Verhältnis zwischen Ungarn
und Deutschen ausgeglichener, führte man ein zweisprachiges Gemeindeleben. In
kleineren Orten mit nur einem Pfarrer verlangte das von diesem die Kenntnis
beider Sprachen. Mancherorts, wie in der Hauptstadt Budapest oder in der
südostungarischen Gemeinde Mezőberény, hatte es eigenständige deutsche
Teilgemeinden. In der ungarndeutschen Dorfgemeinde Ágfalva in der Nähe von
Sopron gab es jeden Sonntag zwei Gottesdienste. Unter der Woche fand ein
weiterer Gottesdienst statt, sodann jeweils eine Bibelstunde für Erwachsene,
Jugendliche und Kinder. Ähnlich sah es mit den Veranstaltungen in vielen
anderen ungarndeutschen Dorfgemeinden aus. Da der Ort nicht weit von Sopron
lag, kam man aber in den Vorzug, hin und wieder Theologiestudenten zu Besuch
zu haben, die unter der Leitung eines Dozenten der Soproner evangelischen
Fakultät im Rahmen des dortigen Deutschunterrichts homiletische Übungen
abhielten. Im Blick auf das kirchliche Leben wäre ein Passus wie im oben
erwähnten Wiener Abkommen überflüssig gewesen: "Die königlich Ungarische
Regierung gewährleistet den Angehörigen der deutschen Volksgruppe die
Möglichkeit, ihr deutsches Volkstum uneingeschränkt zu erhalten." (2)
Mit Hinweis auf jenes Abkommen erreichte jedoch am 4. November 1940 die
Kirchenleitung eine Denkschrift unter dem Titel: |
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"Memorandum über die Lösung der brennenden Fragen unserer
evangelischen deutschen Gemeinden". (3) Unterzeichner waren Friedrich
Spiegel-Schmidt, Edmund Scholtz, Johann Zimmermann und Mathias Schrödl. Über
die Schrift schrieb zuletzt am ausführlichsten ihr Hauptverfasser, Friedrich Spiegel-Schmidt.
(4) Er betont die politische Brisanz der Schrift, die sich um die Frage der
Form des kulturellen Miteinanders im Raum der Kirche bemüht und somit unser
Thema berührt. Das Memorandum wurde im Einvernehmen mit der
Volksgruppenleitung ausgearbeitet. Pfarrer Spiegel-Schmidt bezeichnete dies
später als zweifellos falschen Weg. (5) Vom Volksbund konnte die ELKU auch
wenig Förderliches erwarten. Vereinsstunden wurden auf die Gottesdienstzeit
gelegt und mancherorts erklärt, dass Mitglieder nicht in den Gottesdienst
gehen könnten. (6) In Belecska störte man eines Tages sogar vor der Kirche
durch das Singen deutscher Lieder lautstark den Gottesdienst. An einigen
Orten, wie in Borjád, gab es zwar ein friedliches Miteinander, (7) doch
oftmals setzten die in die Sphäre des Volksbundes geratenen Gemeindeglieder
ihre Pfarrer unter einen großen Druck. "Ständig muss man auf Eiern
tanzen. Ein unbedachtes Wort oder Tun würde sofort dazu führen, dass sie
fakultative von der Kirche wegbleiben würden ...", schreibt Pfarrer
Weinberger aus Pusztavám an Bischof Kapi, den Bischof des Distrikts
Cisdanubien. (8) Als in Gyönk Daniel Krähling (sen.) ins Pfarramt eingeführt
wurde, forderte ihn der Kreisleiter des Volksbundes auf, dass er sich zur
deutschen Volksrasse bekennen solle. Jener antwortete lapidar: "Auf
meinem Herzen habe ich immer stolz den Titel 'Ungar' getragen." (9) Vom
Staat konnte man keine Hilfe beim Widerstand gegen den Volksbund erwarten.
Genannter Pfarrer Weinberger schreibt: "Kein Mensch kann etwas gegen sie
(scil.: Volksbündler) machen. Sie berufen sich auf die von der Regierung
gewonnen Rechte. Leider kann uns die Behörde keinen Schutz bieten. Wir müssen
ihnen alleine gegenüberstehen." (10) |
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Den oben genannten Verfassern der Denkschrift war jener
negative Charakter des Nationalsozialismus durchaus bewusst. Mit ihrer
Denkschrift meinten sie, der eingetretenen Krise Abhilfe verschaffen zu
können. Laut eines Schreibens des Mitunterzeichners Scholtz gab es für
das Zustandekommen das Memorandum noch
einen zweiten, außenpolitischen Grund: (11) Ende 1940 stand der
Wiederanschluss der Batschka in Aussicht. Für die Betreuung der dortigen
Evangelischen sah sich die ungarische Landeskirche zuständig. Dagegen
sträubten sich die dortigen Deutschen. Man wollte eine eigene, völkisch
separierte Kirche. Einen solchen Schritt hatte zuvor das Deutsche Dekanat in
Nordsiebenbürgen vollzogen, als mit dem II. Wiener Schiedsspruch die Region
wieder zu Ungarn gehörte. Den ungarischen Gemeinden gaben sie den Laufpass.
(12) Damit sich Ähnliches in der Batschka nicht wiederhole, wollten die
Unterzeichner des Memorandums deutsche Dekanate innerhalb der ELKU bilden,
aus denen später quasi ein gänzlich deutscher Kirchendistrikt werden sollte. Pfarrer
i. R. Spiegel-Schmidt stellt das Memorandum als positives Beispiel
politischer Seelsorge dar. Darauf ist noch näher einzugehen. Zunächst sollen
ein paar Anmerkungen über die Reaktion der Leitung der ELKU auf das
Memorandum voranstehen. Aus einem auf den 27. Januar datierten Schreiben des Bischofs
des Montandistrikts Raffay an Bischof Kapi erfahren wir, dass eine Kommission
aus dem engeren Kreis der Kirchenleitung das Memorandum 10 Tage nach seiner
Eingabe besprach, die Konsequenzen erörterte (13) und danach die Sache an die
betreffenden Dekanate weiterreichte. Die Gespräche, an denen sich die
Bischöfe beteiligten, (14) sollten laut Anweisung Generalinspektor
Radvánszkys geheim sein. (15) Es lässt sich bereits hier erspüren, für wie
unangenehm man die Sache hielt, da man nichts an die Öffentlichkeit dringen
lassen wollte. Im Distrikt Transdanubien hielt Bischof Kapi mehrere Sitzungen
ab, am 1. Februar 1941 in Sopron, wo er dem Memorandum in seiner Rede eine
klare Absage erteilte. |
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Am 28. April 1941 antworteten dann Generalinspektor Radvánszky
und Bischof Kapi schließlich im Namen der Kirchenleitung insgesamt ablehnend.
(16) Dem Schreiben gehen zwei Stellungnahmen des Rechtsgelehrten Dr. Károly
Mikler voraus, die auf den 2. bzw. 20. Dezember 1940 datiert sind. (17)
Mikler teilte die Anträge des Memorandums in 25 Einzelvorschläge auf und wies
diese drei Rubriken zu: 1) unlösbare Vorschläge, 2) Fragen, die auf der
Synode lösbar sind, 3) Anträge, die auf dem Verwaltungsweg ausführbar sind.
(18) Die Antwort der Kirchenleitung orientierte sich an jener Arbeit, wobei
man aber nur auf jene dritte Rubrik, die auf dem Verwaltungsweg ausführbaren
Anträge, einging. Synodal wollte man den Fall absolut nicht behandelt wissen.
Auf den Vorschlag, deutsche Dekanate einzurichten, heißt es dann: "In
der Frage der Organisation deutscher Dekanate sehen wir zwar - entgegen der
einschlägigen Stellungnahme im Memorandum, worauf wir oben schon hingewiesen
haben - prinzipiell nach allgemeinem Recht und kirchlichem Verfassungsrecht
Hindernisse vorliegen. Dagegen halten wir es aus praktischem Interesse für
erwägenswert und für empfehlenswert, dass die Distrikte ihr Augenmerk auf die
Verwirklichung eventuell einer solchen Regelung richten, die zur Überbrückung
der laut Memorandum im Glaubensbereich an einigen Orten eingetroffenen bzw.
einer solchen in Zukunft eintretbaren Glaubenskrise dienen." (19) Man
lässt sich auf die im Memorandum anvisierte Organisationsform der Dekanate
also erst gar nicht ein! Die politische Taktik der Kirchenleitung war
folgende: Man wollte die Diskussion auf Dekanatsebene ins Lehre laufen
lassen. Bischof Ordass schreibt über das Verhalten der Kirchenleitung:
"Die kirchlichen Führer
gingen
der Erledigung der Sache sichtlich nicht nach, nur dem, dass sie so weit wie
möglich eine Stellungnahme hinausschoben." (20) Der Grund: man fürchtete
bei einer abschlägigen Antwort eine negative Einflussnahme des III. Reichs
auf Ungarn. (21) Die Kirchenleitung wagte in ihrem o. g. Schreiben meist nur
indirekt Kritik am Memorandum. Die Antwort auf die Forderung nach deutschen
Pfarrern für deutsche Gemeinden lautet zum Beispiel: "Es ist unbedingt
wünschenswert und notwendig, dass überall Pfarrer in den deutschsprachigen
Gemeinden dienen, die auch vollständig Deutsch können." (22) |
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Welchen Charakter die Denkschrift hat, deutet sich bereits im
Einleitungssatz an: "Die ungarische evangelische Kirche war seit Beginn
ihrer Reformationszeit rassisch und sprachlich uneinheitlich." (23)
Diese rassische und sprachliche Uneinheitlichkeit scheint offenbar manch
brennende Frage zu erzeugen, die man lösen will. Wie, das ist unter der
Rubrik 'Notwendige Verfassungsrechtliche Änderungen' zu lesen: "Das von
der Kirchengemeinschaft handelnde Gesetz § 11-15 t.c. I. ist so zu ergänzen,
dass bei der tatsächlichen Zugehörigkeit zur Kirchengemeinschaft der
völkische Unterschied eine bestimmte Schranke bedeutet." (24) In diesem
Rahmen stehen die Vorschläge zur Pfarrerausbildung, zur Besetzung der
Pfarrstellen, zur Strukturierung der Kirche und zur Organisation des
Schulwesens. Die Evangelische Kirche hat gut daran getan, das Memorandum in
seinen Grundzügen abzulehnen. Sie hat vielleicht in Schwachheit geantwortet, aber
sie hat geantwortet mit
einem Nein gegen jegliche Versuche, "bestimmte Schranken" zwischen
den Völkern eines Landes zu errichten. II. Von
der Verschleppung bis zur Vertreibung Als im Oktober 1944 die russischen Truppen in Ungarn
einrückten, standen die Zeichen für die deutschsprachigen Gemeinden auf
Sturm. Man hörte von Gräueltaten, die sich besonders gegen Deutsche
richteten. Um nicht als Deutsche aufzufallen, montierte man in
Mezőberény schleunigst die deutschsprachige Aufschrift vom Kirchenportal
ab. Wahrscheinlich einigte man sich dort in dieser Zeit auch auf Ungarisch
als Gottesdienstsprache. Viele Gemeindeglieder flüchteten. Die Bischöfe riefen die
Pfarrer auf, in ihrer Parochie auszuharren, was nicht überall geschah. Die
Gemeinde war dann gezwungen, Veranstaltungen selbst zu organisieren. In den
ungarndeutschen Gemeinden verstärkte das die Tendenz, die Veranstaltungen
ferner auf Ungarisch zu halten. |
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In Pusztavám, wo der Pfarrer geflüchtet war, hielt der Kurator
anstatt des Gottesdienstes sonntags nur eine Andacht mit Liedern, Bibeltext
und Gebet - auf Ungarisch. Die nach dem Einmarsch der Russen bald
einsetzenden Verschleppungen betrafen Evangelische, Katholische und
Reformierte, Deutsche wie Ungarn und schwächten und ängstigten die durch die
Flucht schon dezimierten deutschsprachigen Gemeinden. Mit der Verordnung Nr. 3820/1945 M. E. vom 30. Juni 1945 fing
man dann in Ungarn an, so genannte "volksfeindliche Vergehen" mit
Internierung zu bestrafen. Strafbestand war u. a. die Mitgliedschaft im
Volksbund. Der Bericht von Pfarrer Gyula Palotay aus Harta vermittelt
einerseits einen Eindruck davon, wie groß damals die Gefahr der Willkür war
und für wie unzulänglich man das Vergehen, Mitglied des Volksbundes gewesen
zu sein, ansehen kann. Andererseits erkennt man in jenem Schreiben die
wichtige Rolle, die der Pfarrer für die in Bedrängnis geratenen Gläubigen
spielte. "Am Anfang fingen sie auch unsere Gläubigen aufgrund der
kleinsten Volksbund-Anklage einfach ein, brachten sie nach Kecskemét,
scherten ihre Haare ab und nach mehreren Wochen Untersuchungshaft kamen sie
zum Verhör vor das Volksgericht in Kalocsa. Weil mir in zahlreichen Fällen
das Verhalten der Betreffenden persönlich bekannt war, lud mich das
Volksgericht in fünf Fällen auch als Kronzeugen zu den genannten
Verhandlungen, wo nach meinem Vortrag mehrere von der Anklage freigesprochen
wurden und ihr Vermögen zurückerlangten." (25) Pfarrer Palotay hatte
noch öfters einzuschreiten und ging sogar zweimal bis vor das
Innenministerium. (26) Auch die Kirchenleitung versäumte es nicht, der
Regierung ins Gewissen zu reden. In einer Denkschrift protestierte man gegen
die unmenschliche Behandlung in den Sammellagern und forderte, den
Verleumdungen einen Riegel vorzuschieben. (27) Man kümmerte sich um die cura
pastoralis an den Internierten. Der Distrikt Moson beschloss: "Die
betroffenen Pfarrer sind anzuweisen, dass sie für die Pflege der in
Mosonszolnok zusammengesiedelten deutschsprachigen Gläubigen entgegen allen
Schwierigkeiten und Hindernissen auch zu sorgen haben." (28) |
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Die zum Teil zahlreichen Internierungen gefährdeten die
Aufrechterhaltung der Gemeinden. In Harta fehlte ein Viertel der Gemeinde und
man wusste nicht, wie man die sechs Lehrkräfte an der Schule verhalten
sollte. (29) In Anbetracht des in der Öffentlichkeit mancherorts sehr
deutlich zu spürenden Hasses gegen alles Deutsche entschieden sich viele
Gemeinden, zumindest vorübergehend, ihr deutsches Gemeindeleben einzustellen.
In Mezőberény, wo das bereits geschehen war, hielt man daran fest,
obwohl die Behörde die deutsche Sprache ausdrücklich erlaubte. (30) Die
Pester deutschsprachige Gemeinde beschloss im Mai 1945, sich der ungarischen
Schwestergemeinde anzuschließen. (31) Auf den Wechsel zur ungarischen Sprache
war man in der Kirche gänzlich unvorbereitet. Es mangelte an ungarischen
Gesangbüchern. Pfarrer Weltler aus Rajka bat Bischof Kuthy um 15-20
Exemplare. (32) Das war nicht möglich, so dass Kuthy nichts anderes übrig
blieb, als den Kultusminister um finanzielle Hilfe zur Neuanschaffung zu
bitten. (33) Es spricht für die Gemeindepfarrer, dass sie bei all dem besorgt
waren, diejenigen, die des Ungarischen nicht mächtig waren, vom
Gottesdienstgeschehen nicht auszuschließen. (34) Freilich brauchte man damals
eine Portion Mut, um auf Deutsch zu predigen. In der Pester Gemeinde wagte
dies zunächst nur Bischof Ordass. (35) Meist übten politische Organe auf die
Pfarrer Druck aus und glaubten, über die Sprache in Gottesdienst und Schule
bestimmen zu können. Dagegen kämpfte Bischof Kuthy in einem Rundbrief an:
"Jedem Volk die eigene Sprache. Welche Sprache aber das Volk für sich
bekannt gibt oder wählt, das stellt das Volk selbst fest." (36) Als
Pfarrer Rezső Weltler ihm von der Forderung des Győrer Schulinspektors
berichtete, dass in kirchlichen Schulen auf Ungarisch zu unterrichten sei,
antwortete Kuthy dem Pfarrer: "Die Autonomie unserer Kirche besteht
unverletzt. In der Frage der schulischen Autonomie trat infolge der
politischen Wende kein Wandel ein." (37) In ihre schwerste Krise trieb die deutschsprachigen Gemeinden
der ELKU aber die Vertreibung. Bereits das Gerücht darüber wirkte sich auf
den Kirchenbesuch mancherorts negativ aus. (38) |
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Die Bischöfe ahnten den bevorstehenden Schaden und reichten
protestierend Memoranden bei der Regierung ein, jedoch ohne ein konkretes
Ergebnis zu erzielen. Die Evangelischen in Sopron verfassten zusammen mit den
Soproner Katholiken ein Memorandum. (39) Pfarrer waren mancherorts Tag und
Nacht beschäftigt, Eingaben an die Ortsbehörden zu schreiben, um
Gemeindeglieder von der Vertreibungsliste zu retten. Lediglich in
Einzelfällen ließ sich das Schicksal der Vertreibung abwenden. Als die
Vertreibung einsetzte, erhoben die Pfarrer mit ihren Abschiedsgottesdiensten
auf den Bahnhöfen auf ihre Weise ihre Stimme. Ihr Beistand mit dem Evangelium
war für die politischen Instanzen unangenehm genug. In Mezőberény drohte
die Behörde Pfarrer Kun-Kaiser wegen einer Banalität mit der Todesstrafe,
damit er den Ort sofort verlasse. Als er sich in Budapest hilfesuchend an
Bischof Ordass wandte, erfuhr er, dass in Mezőberény eben die
Vertreibung einsetzte. Man wollte die Anwesenheit des Seelsorgers nicht. Nachdem die Vertreibung durchgeführt worden war, blieb den
Gläubigen nichts anderes übrig, als über die weite Entfernung den Kontakt
zueinander so gut es ging aufrecht zu erhalten. Die Kirchenleitung bat in
einem Schreiben an die Evangelische Kirche in Deutschland, die Vertriebenen
gut aufzunehmen. (40) In den Gemeinden war der Schaden nach der Vertreibung
unübersehbar. Einzelne Parochien waren fast völlig entvölkert. Um nur ein
paar der extremsten Zahlen zu nennen: In Rajka verblieben von etwa 1300
Gläubigen 100, in Balf von ungefähr 1000 noch 65, in Harka von etwa 1000
lediglich 15. In Sopron wurden von 10000 Gemeindegliedern 3500 vertrieben.
Auf einer Bischofssitzung am 8. Mai 1946 hielt Bischof Kapi ein ausführliches
Referat über die kirchlichen Folgen der Aussiedlung. Die nun gebotene Aufgabe
fasst er wie folgt zusammen: "Unsere Kirche bemüht sich, auch die
geschwächten Gemeinden aufrecht zu erhalten. Wo notwendig, ruft sie aber
mittels Zusammenlegung missionarische Zentren ins Leben." (41) Die
Kirche konnte einerseits mit Staatsbeihilfen für Pfarrer rechnen,
andererseits mit der Übernahme der in den Gemeinden überflüssig gewordenen
Lehrer durch den Staat. (42) |
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In concreto hieß das: die Pfarrer arbeiteten in den noch so
dezimierter Gemeinden bis zur Pensionierung, danach sprach man mit einer
größeren Gemeinde die Inkorporation ab. Dieser Strukturwandel war bis über
die 50-er Jahre hinaus im Gange, besonders im Raum Tolna-Baranya. Viele
Familien, die aus Angst vor der Vertreibung untergetaucht waren, kehrten erst
Jahre später, wenn überhaupt, in ihre Heimatdörfer zurück. Von 1946 bis 1953
versteckte sich gleich eine ganze Gruppe von 40-60 Evangelischen aus Györköny
mitten im Wald. Durch Zufall erfuhr der Pakser Pfarrer Károly Sólyom von
ihrer Existenz. Er besuchte die Leute, die - nach seinen Worten - wie im
Urwald lebten, und betreute sie pastoral. 1953 wurden die Zeiten für die
Deutschen besser und die Waldgemeinde löste sich wie ein Spuk wieder auf.
(43) Zu einer anderen interessanten Entwicklung kam es in der Nähe Bonyháds.
Nicht weit von Bonyhád liegt Nagymányok, eine kleine Bergbausiedlung, deren
Bergwerkarbeiter von der Vertreibung verschont blieben. Deshalb suchten viele
deutschsprachige Evangelische aus dem benachbarten Kismányok dort Arbeit. Die
Besitzkonfiskation und später die Kollektivierung der Landwirtschaft bewegte
viele Kismányoker, ihre Existenz nun ganz im Nachbarort aufzubauen. So
entstand dort im Zuge der Nachkriegsjahre eine kleine evangelische Gemeinde.
(44) Mitte der 50-er Jahre visitierte Senior Krähling (sen.) mit seinem
Stellvertreter Sólyom sein von der Vertreibung so sehr in Mitleidenschaft
gezogenes Dekanat Tolna-Baranya. Es war in der ELKU des Nachkriegsungarns die
erste größere Bestandsaufnahme über den äußeren Zustand der Gemeinden. (45) III.
Die Zeit der Konsolidierung Die kirchenfeindliche Politik des Kommunismus machte je länger
je mehr den Gläubigen in Ungarn zu schaffen. Ab 1948 geriet die
Kirchenleitung unter roten Einfluss, was sich auf ihre Haltung gegenüber dem
deutschsprachigen Gemeindeleben aber weder positiv noch negativ auswirkte.
(46) Nur versuchte man, den schweren Stand, den die Ungarndeutschen
mancherorts im öffentlichen Leben hatten, |
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den offiziellen Besuchern aus Westdeutschland, wie dem 1953
angereisten Kirchenpräsidenten Niemöller, zu verbergen. Eine kirchenamtliche
Gefolgschaft passte scharf auf, dass der Besucher keine ungeplanten Kontakte
mit Gemeindegliedern hatte, denn man fürchtete negative Schlagzeilen im
Ausland. Das gab den deutschsprachigen Gemeinden sogar einen gewissen Trumpf
in die Hand, der in einem Fall auch ausgespielt wurde. Als in Mezőberény
Pfarrer Kun-Kaiser aus politischen Gründen nach dem Willen der mehrheitlich
staatstreu gewordenen Kirchenleitung versetzt werden sollte, berief sich die
Gemeinde auf ihren Rückhalt bei den nach Deutschland vertriebenen Gläubigen
und drohte, den Vorgang dort auffliegen zu lassen. (47) Die Kirchenleitung
lenkte ein und Pfarrer Kun-Kaiser durfte bleiben. Man mag darüber klagen, dass sich die Kirche oft nicht positiv
vom gesellschaftlichen Umfeld abhebt. Gegenüber ihrer deutschsprachigen
Minderheit hat die ELKU aber einen ordentlichen Weg in schwierigen Zeiten
eingeschlagen. Während des II. Weltkriegs wehrte sie sich, wenn auch zumeist
sehr zurückhaltend, gegen die Einführung eines völkischen Prinzip, welches
dem kulturellen Miteinander Grenzen gesetzt hätte und wagte es, dem Druck,
der auch vom Kirchlichen Außenamt in Deutschland kam (48), zu widerstehen.
Als sich nach dem Krieg der politische Wind drehte und alles Deutsche in ein
schlechtes Licht geriet, trat man oftmals mutig für die Glaubensgeschwister
ein und bot ihnen so gut es ging Raum für ein Leben in ihrer Muttersprache. ________________________________________ 1.) Zitiert in: Eichholz, Georg, Das Rätsel des historischen
Jesus und die Gegenwart Jesu Christi, Theologische Bücherei, Bd. 72, Neues
Testament, Chr. Kaiser Verlag, München 1984, 82. |
p.45. |
2.) Das Wiener Abkommen, Deutsch-ungarisches Protokoll vom 30.
August 1940. Abgedruckt in: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn,
Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa, Bd. 2,
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, unveränderter Nachdruck der Ausgabe
von 1956, 1984, Anlage 1 (73E). 3.) Memorandum, 4. November 1940. Zentralarchiv der ELKU,
Gesamtkirche, Distrikt Cisdanubien, 53. Schachtel. 4.) Spiegel-Schmidt, Friedrich, Lernprozess, Ein Leben zwischen
Kirche und Politik, Bd. 1.2, Evangelischer Presseverband in Österreich, Wien,
1992. 5.) Spiegel-Schmidt, Friedrich,
Die protestantischen Kirchen in Ungarn 1939-1950, Hannover, 1950,
zitiert in: Ordass Lajos, Önéletrajzi írások, Bd. 1, Az Europai Protestáns
Magyar Szabadegyetem, Bern, 1985, 133. 6.) Kapi, Béla, Megjegyzések az "Evangélikus német
gyülekezeteink égető kérdéseinek megoldásáról írt 'memorandumra'",
Győr, 1942. 7.) Foltin Brúnó, Isten megoldást munkáló útja nagy
feszültségek idején, in: Lelkipásztor, Evangélikus lelkészi szakfolyóirat,
Nr. 67 (1992/1), 20-22. 8.) Schreiben von Pfarrer Weinberger an Bischof Kuthy.
Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 18. Schachtel, Aktenzeichen
478/1943. 9.) Igazolások. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Transdanubien,
36. Schachtel, 1945-48. 10.) S. Anmerkung 8. 11.) Schreiben von Senior i. R. Scholtz an Generalinspektor Radvánszky,
31. Dezember 1946. Zentralarchiv der ELKU, Gesamtkirche, 124. Schachtel. 12.) Vgl. Ordass, Lajos, Válasz az "Evangélikus német
gyülekezeteink égető kérdéseinek megoldásáról írt
"Memorandum"-ra, Budapest, 1942, 7f. 13.) Schreiben von Bischof Raffay an Bischof Kapi, 27. Januar
1941. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Transdanubien, 106. Schachtel,
Aktenzeichen 223/1941. 14.) Raffay hat im Montandistrikt das Memorandum besprochen
(gegen Spiegel-Schmidt, Lernprozess, Bd. 1, 100). S. Anmerkung 13. 15.) S. Anmerkung 13. |
p.46. |
16.) Schreiben der Kirchenleitung an Senior i. R. Scholtz, 28.
April 1941. Zentralarchiv der ELKU, Gesamtkirche, Aktenzeichen 915/1941. 17.) Mikler, Károly, Jogi vélemény. Zentralarchiv der ELKU,
Gesamtkirche, 106. Schachtel, Aktenzeichen 92/1941. 18.) S. Anmerkung 17. 19.) S. Anmerkung 16. 20.) Ordass, Lajos, Önéletrajzi írások, 130. S. Anmerkung 5. 21.) Ordass, Lajos, Önéletrajzi írások, 130. S. Anmerkung 5. 22.) S. Anmerkung 16. 23.) Memorandum, 1. S. Anmerkung 3. 24.) Memorandum, 10. S. Anmerkung 3. 25.) Brief von Pfarrer Palotay an Bischof Kuthy, 16. Juni 1945.
Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 21. Schachtel. 26.) S. Anmerkung 25. 27.) Memorandum der Kirchenleitung, 17. Dezember 1945.
Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 21. Schachtel, Aktenzeichen
1033/1945. 28.) Protokoll des Dekanats Moson vom 23. Oktober 1945.
Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 21. Schachtel. 29.) Brief von Pfarrer Palotay an Bischof Kuthy. S. Anmerkung
25. 30.) Gemeindearchiv Mezőberény I. Protokoll der
Presbyteriumssitzung vom 27. Mai 1945, 93 f. 31.) Protokoll der Deutschsprachigen Pester Gemeinde vom 6. Mai
1945. Zentralarchiv der ELKU, Budapester Dekanat, 19. Schachtel. 32.) Schreiben von Pfarrer Ödön Weltler an Bischof Kuthy, 2.
Januar 1946. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 22. Schachtel. 33.) Schreiben von Bischof Kuthy an den Kultusminister, 28.
Januar 1946. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 22. Schachtel. 34.) Bericht von Pfarrer Tarjáni an Bischof Kuthy, 30.
September 1945. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 21. Schachtel. 35.) Ordass, Lajos, Önéletrajzi írások, 183. S. Anmerkung 17. |
p.47. |
36.) Rundschreiben Bischof Kuthys, 2. Juni 1945. Zentralarchiv
der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 21. Schachtel. 37.) Schreiben Bischof Kuthys an Pfarrer Rezső Weltler, 9.
Juli 1945. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 21. Schachtel. 38.) Brief von Pfarrer Tarjáni an Bischof Kuthy, 26. Dezember
1945. Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 26. Schachtel. 39.) Zentralarchiv der ELKU, Distrikt Cisdanubien, 22.
Schachtel. 40.) Protokoll der Bischofskonferenz vom 26. Dezember 1947.
Zentralarchiv der ELKU, Schachtel für die Protokolle der Bischofskonferenzen. 41.) Protokoll der Bischofskonferenz vom 24. Juni 1946. S.
Anmerkung 40. 42.) Protokoll der Bischofskonferenz vom 24. Juni 1946. S.
Anmerkung 40. 43.) Aus einem Gespräch mit Senior i. R. Sólyom. 44.) Aus einem Gespräch mit Senior Krähling (jun.). 45.) Aus einem Gespräch mit Senior i. R. Sólyom. 46.) Vgl. das Schreiben von Bischof Dezséry an Pfarrer
Danhauser, 7. Februar 1951. Zentralarchiv der ELKU, Montandistrikt, 493.
Schachtel. 47.) Schreiben Samuel Eilers aus Mezőberény an das
Staatliche Kirchenamt. Archiv des Staatlichen Kirchenamtes, 10. Schachtel,
Aktenzeichen: 8928-3-1956. 48.) Vgl. das bei Spiegel-Schmidt, Friedrich, Lernprozess, Bd.
1, 105f (S. Anmerkung 4) wiedergegebene Schreiben. |
p.48 |
Impressum: Series of the Collections for
Research into Sudeten German Minority (Ed. Dr. Lea-Katharina STELLER.
Szentendre/Hungary, HU ISSN 1788-0971) III. (2006) pp.33-48: Dr. Jochen
KOCH: Die Regentschaft der Sprache und die Sprache der Regenten (Die
Geschichte der deutschsprachigen Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen
Kirche in Ungarn vom II. Weltkrieg bis in die 50-er Jahre) Copyright: Szudétanémet Tudományos
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Sudeten German Minority |